Prosa

Duschehubka 3


Ausgang

Treblinka, Frühling 1943

Nein wirklich, unter diesen Umständen lohnt es sich gar nicht, nur weil man frei hat, nur wegen der alten Bekannten, doch wohin kann man hier gehen, mit wem ein vernünftiges Wort wechseln, immer folgt die Ernüchterung, und dann von neuem die polnische Steppe, die tobende Langeweile, und wieder nur das Vorliebnehmen mit der Bagage von Ostrów, das Lazarett, das Krüppelpack, doch wenigstens wartet da jemand, okay, die Fragerei ist plump, Mitgefühl gleich null, man kann auch nicht alles sagen, aber trotzdem; interessant, daß zum Beispiel niemand sich darüber aufregt, daß die Anstalt täglich zwei bis drei Zugsgarnituren aufnehmen muß, irgendwie halten alle es für ganz selbstverständlich, daß eine Handvoll Leute Tag für Tag, von früh bis spät, keine Mühe scheuend, die Bevölkerung einer ganzen Kleinstadt durch das Lager bewegt, ohne daß die hochheilige Ordnung ins Wanken gerät, um dann zu zwanzig nach jedem Durchgang zurückzukehren, abgeschrubbt und desinfiziert, und niemanden macht es Kopfschmerzen, wie ein solches Lager imstande sein kann, neben einem solchen Durchgangsverkehr soviel Reisegepäck, pro Ankömmling fünfzehn Kilo, auch mal mehr, auch nur vorübergehend einzulagern, wo doch der verfügbare überdachte Lagerraum nur die Größe von ein paar Pferdeställen hat, für das Sortieren der Lumpen steht eine Fläche kleiner als ein Dorffußballplatz zur Verfügung, und auch darüber wundert sich niemand, wie in Anbetracht des unvermeidlichen Körperkontakts die Seuchengefahr eingedämmt werden kann, bei solchen Zahlenverhältnissen, wo auf eine Ordnungsperson hundert Eintreffende kommen, und vor allem wie das enorme Tempo gehalten werden kann, das der Schlüssel für den Erfolg des Ganzen ist, gleichbedeutend mit der Kanalisierung von - vorübergehende Stockungen abgesehen - stündlich die Zufuhr von einem Häuserblock, was wirklich übermenschliche Anstrengungen erfordert, in Anbetracht des Schüttgutcharakters der angelieferten Masse und wohl wissend, wie sehr die nicht an Ordnung und Disziplin gewöhnt sind, und ständig damit konfrontiert, daß sie, obwohl jedes Volk mehr als sie leidet, lauter als alle jammern; interessanterweise verschließen alle davor die Augen, als wäre die Arbeit von anderen keine Arbeit, als ob das Lager, nachdem der erste Pfosten eingeschlagen, der erste Stacheldraht gespannt und der erste Wachturm aufgestellt ist, sich wie eine Teufelsmühle von selbst in Gang halten würde, nur darauf sind alle neugierig, wozu dieser Ziegelbau in der oberen Abteilung gut ist, wozu, wozu, ist denn nicht schon oft genug gesagt worden, nicht in genügend vielen Sprachen angeschlagen worden, daß es sich um ein Durchgangsager handelt, wo eine Desinfektionsstation in Betrieb ist, wem das zuwenig ist, wer noch nicht genug weiß, soll sich bei den übergeordneten Stellen erkundigen, sich die amtlichen Dokumente ansehen, auch dort scheint es auf, wortwörtlich, natürlich wissen sie genug, mehr als gut ist, da gibt es in Ostrów welche, die schon monatelang das Bett hüten, sie wissen, daß der neue Ziegelbau vor dem alten errichtet worden ist, aus Abbruchmaterial, aus dem Schornstein einer außer Betrieb gestellten Glashütte, der ist gesprengt worden, um gratis zu Ziegeln zu kommen, sie wissen, daß das Fundament aus Beton und das Dach aus Blech ist, was wollen sie denn noch wissen, nichts, sie debattieren darüber, ob der Panzermotor mit Diesel oder Benzin läuft, ist das nicht egal?, die Hauptsache ist, daß er seine Aufgabe erfüllt, das heißt, Strom erzeugt, sonst würde  das Lager in Dunkelheit versinken, denn wer so einen Dieselmotor für was anderes gebrauchen will, ist fraglos ein technischer Analphabet, aber mit dieser Antwort geben sie sich nicht zufrieden, als Deutsche, die, wenn man sie in den Arsch tritt, sofort anfangen, den Winkel zu taxieren, aus dem der Tritt sie getroffen hat, denn sie wissen auch, glauben es zu wissen, daß der Motor sechshundert PS und zwölf Zylinder hat und aus einem abgeschossenen T-34 ausgebaut worden ist, und behaupten steif und fest, daß seine Drehzahl so und so viel wäre, dabei könnten sie wissen, daß es nicht darauf ankommt, sondern in welchem Tempo die gesamte Mannschaft rotiert, doch so ist das nun mal, die Technik ist ihr Gott, deshalb ist es zweckmäßig, ehe sie diese erschöpfende Antwort übelnehmen würden - manche von ihnen haben bei einer Panzereinheit gedient -, hinzuzufügen, daß alles in Ordnung ist, solange man diesen Motor nicht aus einem abgeschossenen Tiger ausbauen muß, zweckmäßig, aber überflüssig, besser ist, sich nicht darüber auszulassen, Krüppel, Mimosen, die Panzer und ihre Parameter sind ohnehin allesamt irreführend, es geht ihnen ja auch gar nicht darum, sondern um die Wasserleitungen, was aus denen herauskommt, im neuen Bad im neuen Ziegelbau, kann es sein, daß sie doch nicht genug wissen?, oder sie sind wie Kinder, die immer nur die häßlichen Wörter wiederholen; auch die muß man zurechtweisen,  unter ihnen sind ehemalige Klassen- und Arbeitskollegen, Schicksalsgefährten, ehemalige Vorgesetzte, stoi, eine Front gibt es nicht nur am Don und an der Wolga, sondern auch hier, entlang des Bugs, ist es dort vielleicht üblich, dort, von wo die Verletzten hergebracht, wo ihre Eisernen Kreuze geschmiedet werden, im großen Rußland, Schlachtpläne auszuplaudern?, das kann sich natürlich niemand verkneifen, keinerlei Zurückhaltung legen sie an den Tag, sie werden eher noch aufdringlicher, noch plump-vertraulicher, Cognac und Wodka fließen, und das Ganze geht so weit, daß sie mich schon über die Versorgung löchern, ob es etwa wahr sei, daß die anfänglichen Pro-Kopf-Rationen, das heißt, die Rahmenbedingungen der Nahrungsmittelversorgung, unverändert blieben, während die Zahl der Neuankömmlinge ständig wachse?, was läßt sich darauf antworten, mitnichten bleiben sie unverändert, auch die Lieferungen ändern sich, polnische Haferkleie, saure Gurken, Fleischkonserven, von deutschen Transporten stammend, Schokolade aus Mazedonien, Feigen, Halwa, das ganze Lager ein gedeckter Tisch, sogar von den Abfällen kann man prächtig leben, die erwähnt man besser gar nicht, die bringen sie in noch größere Aufregung, gleich kommen sie auf den Geruch zu sprechen, rümpfen die Nase, als würde sie ihn selbst schon spüren, zwar stimmt es, daß im Operationsraum und im ganzen Krankenhaus ein Hauch von so etwas ähnlichem in der Luft hängt, tatsächlich nicht der tollste aller Duftstoffe, und dann kriegt man es auch schon zu hören, zwanzig Schichten, halb Warschau, übereinander würden sie liegen, Gas würde hochkommen, die Erde sich aufwerfen, dann absacken; und dann staunen alle auch noch, wenn man antwortet, daß anstelle von Arbeitsfähigen jede Menge Arbeitsuntaugliche, Alte und Kranke eintreffen, es kommt vor, daß in einer ganzen Zugsgarnitur kein einziger Lebender zu finden ist, die muß man  ja irgendwo hintun, nicht wahr?, warum, an der Front ersteht auch nicht jeder gefallene Soldat gleich wieder auf, zum anderen sollen sie das mit den zwanzig Schichten doch nicht glauben, wer wäre denn so bescheuert, hunderttausende von Leichen einzubuddeln, neben einem gegrabenen Brunnen, wo das Trinkwasser herkommt, was würden die Vorgesetzen dazu sagen, was die Professoren der Hygiene und der Chemie bei der fälligen Kontrolle, wir brauchen ohnehin Massen von Chlor und Kalk, aber das hören sie nicht einmal, bombardieren einen mit diesem süßlichen, bestialischen Gestank, wie man den aushalten soll, na und die Kämpfe rund um Charkow?, die haben sich auch nicht in einer Parfumwolke abgespielt!, doch die Übermacht siegt, feuerungstechnische Fragen prasseln nieder, der Rost, auf dem ..., wie groß der ist, eine Ladung, wieviel Stück das sind, warum kein Krematorium, wenn das schon drei jahre so läuft; man müßte sie einfach sitzenlassen, ihre Zungen, ihre Sätze verheddern sich, sie brennen richtiggehend vor Aufregung, einer klappert mit seinen Krücken, ein anderen klopft ständig mit dem Armgips auf den Tisch, jetzt nicht, Herr Stabsscharführer, jetzt gehen sie nirgendwo hin, keinen Schritt aus dem Saal, aus irgendeinem Grund ist das für sie selbstverständlich, ganz ausgeschlossen, wir sind noch nicht fertig, was ist mit der Asche, wo kommt die hin, ausgerechnet das läßt ihnen gar keine Ruhe, diese unglaubliche Menge, darüber, über dieses technische Problem, halten sich alle auf, dann muß man sie beschwichtigen, damit sie sich nicht überflüssigerweise graue Haare wachsen lassen, zum Glück haben wir Anweisungen erhalten, somit wird als Arznei der einschlägige Universalspruch verabreicht; meine Herren, Sie können Gift darauf nehmen, ein Problem haben wir nur dann, wenn je nach uns eine Generation kommen sollte, die so schlapp und so knochenweich ist, daß sie die titanischen Taten der Väter nicht versteht und vielleicht unbequeme Fragen stellt, dann hätte sich das Ganze gar nicht gelohnt, nicht wahr?

Übertragen von Heinrich Eisterer