Prosa

Fuge

Polen 1941–1944

Höre Israel, würdest du beginnen, hast das Tuch über deinen Augen ein wenig höher gebunden, um zu sehen, was zu deinen Füßen geschieht, doch schon dröhnen die Schüsse. Du fällst, etwas früher als die anderen. Sie stürzen auf dich. Starr liegst du da, im Todesgrauen, sechzehnjähriger Junge. Dein Volk verdeckt dich. Die Hinrichtung geht weiter. Dann, lange Zeit später verstummen die Waffen. Die Nacht bricht ein. Du regst dich. Versuchst unter ihnen hervorzukriechen. Jemand packt dein Bein. Ein Schicksalsgenosse. ● Der Bauer empfängt dich zornig wie einen Fremden. Ob du auf deine Mama warten darfst, so wäret ihr verblieben. Ja, sagt er, aber er habe es sich anders überlegt. Bis zum Abend darfst du bleiben, bekommst zu essen, dann sieh zu, wo du bleibst. Bitte ihn um nichts! Aus der Tasche seiner Jacke hängt die Kette der Golduhr deines Vaters. ● Aus der Straße werden mehrere aus ihrem Versteck mitgenommen, euch haben sie noch nicht entdeckt. Der Nachbar führt die Deutschen auf die Spur. Die Ehefrau des Mannes, der euch versteckt, fragt ihn leise am Zaun stehend, warum er die Armen Hitler ausgeliefert habe. Der Nachbar schmettert selbstsicherzurück: Nicht Hitler tötet sie, Gott will es so. Hitler ist nur ein Instrument in seiner Hand. Wie könnte ich mich dem Willen Gottes widersetzen? ● Zieht euch aus, jüdisches Kommunistenpack!, sagen die von der AK. Sie müssen die Gegend von solchem Gesindel säubern, wie ihr es seid. Schade um dich, denn du bist ein hübscher Junge, sagen sie deinem zwölfjährigen Bruder, aber weil du Jude bist, zur Hölle mit dir! Deine Eltern, dein Bruder, dein Onkel, deine Tante, ihre beiden Kinder niedergestreckt für immer. Du, elfjähriges Mädchen, und dein kleiner Bruder, ihr liegt gelähmt, mit Schusswunden. Jedem nehmen sie den Schmuck weg und reiten fort. Jungen noch, mit feinen Zügen. ● Deine Mutter kleidet dich als Mädchen, damit sie deine Beschneidung nicht überprüfen. Dein Haar wächst lang, doch nicht die körperliche Verwandlung ist schwer, sondern die bislang männlich konjugierten Verben in die weibliche Form zu setzen. In Vergangenheit und Zukunft. ● Auf feuchten, klebrigen, glitschigen Steinen sitzt ihr. Würmer kriechen über euch. Ihr stoßt an Spinnweben. Du lässt dich im Schoß deiner Mutter nieder, dein dreijähriger Bruder sitzt auf eures Vaters Knien. Er füttert die Ratten so wie andere ihre Lieblingshunde. Wenn irgendwo die Toilettenspülung gezogen wird, rauschen Unmengen von Wasser in die Kanalisation. Dann drückt ihr euch an die Wand, damit das Abwasser euch nicht überfließt. ● Ab nachmittags um drei ist es schon dunkel in der Scheune, auch bis dahin sickert das Licht nur durch Ritze herein. Dein Vater lehrt dich die Bibel, versäumt er es einmal, erinnerst du ihn daran. Deine Mutter bittet die Bäuerin um Wolle, sie strickt einen Pullover für ihre Töchter. Dein Vater schnitzt ihnen Holzschuhe, und wenn die Mädchen zur Kirche gehen, fragen alle, wer hat diese hübschen Schuhe gemacht? ●

Wenn euer Vater eben nicht erzählt, dann sagt er Gedichte auf und dichtet auch selbst. Szenen denkt ihr euch aus und tragt sie vor im ersten Kanalisationstheater der Welt. Die Ehefrau eures Retters schickt deiner Mutter ein Gebetbuch und Kerzen, denn am Freitagabend, ihr wisst es, müssen Kerzen angezündet werden. Von Zeit zu Zeit geht ihr in die Nähe des Gitters, das wenige hereinsickernde Licht zu sehen, Stimmen zu hören. ● Fiebrig machst du dich ans Deutsche, aus den die Belagerung begleitenden Pogromen diese Lehre ziehend. Tag und Nacht schreibst du, liest, sagst Gedichte, sprichst auch für dich nur Deutsch, spielst ausgedachte Szenen, mal in die Haut des Stadtkommandanten, mal in jene des Gendarmen schlüpfend, zum völligen Entsetzen deiner Freundinnen, zum nicht geringen Ärger und derendlosen Trauer deiner Familie, dann stellst du dich eines Tages auf die Landstraße hinaus, um dich als Volksdeutsche mit einem Militärlaster mitnehmen zu lassen. Die SS beginnt mit dem Leeren des Ghettos, sie rechnet nicht mit Widerstand. Zwei Wochen wütet der Kampf, fünf deiner Geschwister nehmen teil, die Ermordeten werfen sie schließlich in den Fluss. An deinem neuen Platz erfährst du als Haushaltsangestellte von alldem, und als schmerzte dein Zahn, vergräbst du dein Gesicht im Taschentuch. ● Als die anderen schon hingerichtet worden waren und ihr euch am dritten Tag aus dem Wald heraus wagtet und mit deiner Mutter zu ihrem Freund aus Kindertagen gingt, damit er euch wenigstens für einige Tage eine Unterkunft gäbe, weist er euch mit den Worten die Tür: Wenn Gott kein Erbarmen mit euch hat, wie könnt ihr erwarten, dass die Menschen sich euer erbarmen? ● Deine Mutter, deinen kleinen Bruder hat eine Maschinenpistole vor deinen Augen niedergemetzelt. Dort stehst du am Rande der Grube, die Erde bewegt sich, ein furchtbarer Anblick. Du wartest, die Reihe ist an dir. Der Deutsche kommt hin, kneift die Augen zusammen. Etwas glitzert auf dem Boden. Du zeigst es ihm, sehen Sie, eine Uhr. Er geht hin, um sie aufzuheben, und du rennst los. Er jagt dir Schüsse hinterher. Er trifft nicht. ● Überall klopft ihr an, von überall werdet ihr fortgeschickt. Zu ihnen nicht, dort gehen Deutsche ein und aus, ein Polizist wohnt in der Nachbarschaft, sie werden doch wohl nicht das Leben ihrer Familie wegen euch riskieren. – Die Frau weigert sich zuerst, ihr geht in das Nachbardorf hinüber, doch als die Deutschen den Ort umschließen, schickt sie ihren Mann, euch zu holen. Der Bauer, jeder kennt ihn in der Gegend, setzt euch auf den Schlitten und fährt mit euch aus dem deutschen Ring. Zu Hause erklärt die Frau, ab heute sind dein Vater, deine Mutter und du, zwölfjähriges Mädchen, ihre Gäste. Sie legt ein Kreuz auf den Tisch und lässt ihre Kinder schwören, davon zu niemandem zu sprechen. ● Die getarnte Tür öffnet sich, ein Kerl in Reiterstiefeln betritt das winzige Versteck. Er zählt die Namen auf, alle acht. Was für eine schöne Haut, er fasst die Hand deines Onkels an, was für eine zarte Haut Sie haben, er massiert sie, gerade richtig für Handschuhe! Dann fügt er hinzu: die Untergrundbewegung braucht das Geld. Ihr gebt alles, was ihr habt. ● Eine fünf Meter lange, anderthalb Meter breite, mit Stroh gefütterte, zugedeckte Grube im Stall. Petroleumlampe, Gestank, stickige Luft. Der Rabbi und seine Frau im Bett, deine Eltern und ihr drei Kinder auf dem Boden. Bettzeug habt ihr von zu Hause mitgebracht. Siebenhundert Gramm Brot, ein wenig wässrige Suppe täglich, wöchentlich einmal Wasser zum Waschen. ●

Ein Bunker innerhalb des Hauses, einer hinten auf dem Hof, einer im Wald, ihr könnt je nach Lage pendeln. Andere im morastigen Sumpf, im Bergwerk, im Kirchturm, im Schweinestall, auf dem polnischen Friedhof in der Leichenhalle, am Grund des abgelassenen Fischteichs. ● Die Aufbewahrung der wertvollen Sachen hatten eure Eltern einer Bekannten anvertraut. Nur du und deine kleine Schwester seid übriggeblieben, fünfzehn und dreizehn Jahre alt. Ihr braucht Geld zum Überleben. Ihr schickt einen guten Freund, einen Christen, einige Sachen zu holen. Statt der Frau übernimmt ihr Schwiegersohn die Erledigung, ein Offizier der Untergrundbewegung, zumindest behauptet er das von sich. Im Namen der Organisation befiehlt er dem guten Freund, die zwei jüdischen Banditen, euch, unverzüglich zu töten. Im entgegengesetzten Fall töteten sie ihn und seine Familie. Der gute Freund erzählt euch, was geschehen ist, und bittet euch dann, mit ihm ins Boot zu steigen, dorthin zu rudern, wo der Schwiegersohn, der AK-Soldat, wohnt, Steine in den Fluss zu werfen und so zu kreischen, als würdet ihr umgebracht, sonst käme das Ende für ihn und seine Familie. Am nächsten Tag steigt ihr ins Boot, werft Steine ins Wasser, jammert laut und geht auf der anderen Seite ans Ufer. ● Fünfhundert Dollar zahlt ihr dem Bauern für drei Monate. Und der kauft sich eine Häckselmaschine. Die Nachbarn finden sogleich heraus, dass Juden bei ihm sind, woher hätte er sonst Geld? Nur der Jude hat Geld. Ihr könnt eure Zelte abbrechen. – Ein halbes Jahr habt ihr im Voraus bezahlt, ein Jahr, der Jude hat Geld, nach einer Woche kommt der Bauer damit, dass am gleichen Tag, am nächsten Tag, am übernächsten Tag, bald eine Hausdurchsuchung stattfindet, geht fort. ● Nur der Tag der Auflösung des Ghettos ist zweifelhaft, nicht, dass die dort Eingekesselten nicht wissen wohin. Allein dich kann dein deutscher Chef von dort retten, weil du Sprachen sprichst, einen Beruf hast, und was die Hauptsache ist, sein Angestellter bist. Deine Mutter beschließt, wenn du die Chance zum Überleben hast, dann greif sie beim Schopf, es soll einen geben, der einmal erzählen kann, was mit ihnen geschehen ist. Als die deutsche “Aktion” startet, schläfst du schon in der Wohnung deines Chefs, nicht im Ghetto. Vielleicht metzelt man gerade jetzt deine Eltern nieder, deine kleinen Geschwister, mit diesem Wissen stehst du auf, gehst zu Bett, verrichtest deine Arbeit. Doch was in dir wütet, darf kein Zucken deiner Gesichtsmuskeln verraten. ● Unter den Letzten trittst du dorthin. Hinter deiner Großmutter, deiner Tante. Der Schuss fällt, jemand reißt dich weg, du fällst. Die Grube ist schon voll. Du stürzt auf den Rand. Beinahe oben drauf. Dein Körper erstarrt zu Stein, dein Bewusstsein ist wach. Lange rattert das Maschinengewehr, viele von euch haben sie verfehlt. Viele klagen, flehen um ihr Leben. Das Hinrichtungskommando kommt hin und schießt sie in den Kopf. Du bist eins mit den unter dir Liegenden. Du hörst die sich entfernenden Schritte. Es ist dunkel, du setzt dich auf, auf den Leichen, siebenjähriges Mädchen. ● Da es im Schrank stockfinster ist und man nur einander ins Ohr flüsternd sprechen darf, du aber bald ein Schulkind bist und dir mit etwas die Zeit vertreiben musst, denkt sich dein Vater eine interessante Methode des Unterrichtens aus. Die Berührung zeigt den Zahlenwert an, die Handfläche ist die Tafel. Zuerst lernst du die Zahlen bis zehn, dann bis zwanzig, und so weiter bis hundert. Die Buchstaben bringt er dir ebenso bei, auf deine Hand gezeichnet. Und immer flüstert er dir ihren Namen ins Ohr. Später, wenn du dann Buchstaben oder Zahlen siehst, spürst du ihre Form sofort auf der Hand. ● Du kommst ins Dorf, weil ihr keine Lebensmittel mehr habt, du klopfst am Tor eines Bekannten. Warte, ruft die Frau, er betet noch. Kurz darauf kommt der Mann hinaus und sagt: Es ist Gottes Entscheidung, dass du sterben musst. Geh und stell dich den Deutschen. Du kannst dem sowieso nicht entkommen, was dort oben beschlossen wurde. ●

Schon zu elft versteckt ihr euch auf dem Dachboden. An der Tür klopft der zwölfte. Sag, meine Liebe, fragt der Bauer seine Frau, was machen die Deutschen mit uns, wenn sie hier elf Juden finden? Was für eine Frage, na, sie erschießen uns, erwidert die Frau. Und wenn sie zwölf finden? Dann auch, erwidert die Frau. Na, dann, in Gottes Namen, lass uns auch den zwölften aufnehmen. ● Deine Mutter hält dich auf dem Arm, dich Zweijährige, beim Rennen fallt ihr in den Graben, auf euch stürzen die, die getroffen wurden, sie vermag kaum unter ihnen hervorzukriechen, erst als sie dich schüttelt, bricht in dir ein Weinen auf, sie weiß, du lebst. ● Von der Oberfläche betrachtet nur eine Kluft. Die Einheimischen benutzen sie als Kadavergrube. Vier Räume gehen von den Gängen ab. In einem kocht ihr, in dem anderen lagert ihr, in dem dritten schlaft ihr, der vierte ist der Spielplatz von euch Kindern. Drei Familien, sechsunddreißig Menschen. Die Männer gehen alle sechs Wochen auf Beschaffungstour. Einige Kerzen, einige Petroleumlampen, sie brennen nur kurz. Der Rhythmus von Tag und Nacht erlischt, oft schlaft ihr zwanzig Stunden am Stück. Die Gänge in der dunklen Höhle, als würdet ihr die Brailleschrift lesen, erinnern eure Sohlen. Dreihundertvierundvierzig Tage hindurch. ● Du gelangst auf die Landstraße hinaus, ein Pferdewagen nähert sich, ein polnischer Bauer auf dem Kutschbock, vier Juden auf dem Wagen. Du fragst sie auf Jiddisch, wohin sie fahren. Sie sind die Vertreter der Juden aus dem Nachbardorf, sagen sie, und haben sich auf den Weg gemacht, um den Lagerkommandanten von Sobibor zu überzeugen, ihnen Aufschub bis zum Frühjahr zu geben, damit sie nicht jetzt hingehen müssen, um zu arbeiten, im Oktober, zur Erntezeit. ● Noch im Morgengrauen hatte er eingespannt, doch fliehen konnte er schon nicht mehr vor ihnen, sie kamen früher als erwartet. So ergeht es einem, der als Ukrainer Juden versteckt. Einer der Schurken kramt im Wagenkasten, der andere wirft eine Fackel aufs Haus, der dritte stürzt hinter der Bäuerin her, so könnt ihr beide entkommen. Barfuß im Schnee. In der Nähe eine Holzbrücke, ein Kanal, sein Wasser breiig vom Eis. Ihr taucht unter. Achtjähriges Mädchen, du hältst die Hand deiner Mutter, rühr dich nicht, sagt sie dir mit ihren Augen, ein Eispanzer friert um eure Körper. ● Beim Angestellten deines Onkels, am Ende des Zimmers mauerten sie einen sechs Quadratmeter großen Bau. Darin eine dreistöckige Pritsche und ihr zu sechst. Davor ein Schrank, Terpentin, Schuhkreme und andere stark duftende Chemikalien, damit die Hunde euch nicht wittern. ● Euer Hausherr fürchtet, dass ihr bei ihm hängen bleibt, aber auch, dass ihr einmal weiterzieht, und sich so herausstellt, ihr habt bei ihm gewohnt. Eines Morgens, als euer Vater fortgeht, um Lebensmittel zu besorgen, bringt er dich, siebenjähriger Junge, und deine fünfjährige Schwester in den Wald hinaus, setzt euch in eine Grube, schaufelt die Erde auf euch und lässt euch dort, denn er denkt, einmal würde man ihn wegen euch töten! Ihr seid schon halbtot, als ihr zu euch kommt. Zum Glück ist ein Stock zur Hand, mit ihm bohrt ihr ein Loch, ein wenig Luft kommt herein. Den ganzen Tag grabt ihr, zum Abend gelingt es euch hinauszuklettern. Wohin könnt ihr gehen? Ihr kennt niemanden in der Gegend. Ihr geht zu ihm zurück. Als ihr das Haus betretet, glaubt er, Gespenster zu sehen. Er brüllt, rauft sich die Haare. Plötzlich schnappt er sich das große Messer, um sich ins Herz zu stechen. Sie bringen mich eh wegen euch um!, schreit er außer sich. Dann holt er einen Strick, um euch zu erhängen. Da trifft euer Vater mit den Lebensmitteln ein. ●

Du springst nach deiner Mutter aus dem Waggon, danach siehst du sie nie wieder. Nachdem dir Leute aus der Gegend den Weg gewiesen haben, dir Einlass gewährten, dich packten und gehen ließen, gelangst du in die Heimat deiner Mutter, dort klopfst du bei jenen an, die vor kurzem den Boden deines Großvaters gekauft haben, du lebst noch immer?, staunen sie, dann besprechen sie mit den Dorfbewohnern aus der Nachbarschaft, da du nichts hast, wohin du gehen könntest, dass jeder dich aufnimmt für eine kurze Zeit, so machen alle sich schuldig und keiner wird den anderen verraten. ● Ihr nennt es Höhle, in Wirklichkeit ist es eine Wohngrube. Von Baumstämmen gestützt, mit Rinde isoliert, mit Zweigen bedeckt. Darin aus Ästen zusammengezimmerte Betten. In der Mitte ein einfacher Herd, darüber die Rauchöffnung. Mit Eichenholz heizt ihr, das macht kaum Rauch. Nur das geübte Auge des Ukrainers soll euch nicht bemerken, er soll euch die Deutschen nicht auf den Hals schicken! Ein Kilo Salz seid ihr pro Kopf wert. Kinder, Erwachsene. Ihr seid das Salz der Erde. Doch euer Versteck habt ihr so gut getarnt, dass ihr manches Mal selbst nicht nach Hause findet. ● Mit Gewalt bringen sie dich aus dem Dorf weg, in dem du als christliche Waise dienst, dreizehnjähriges Mädchen. Sanitäterin wirst du im Wald bei den Banderisten. Ein wildes Gesindel. Rottet sie aus, die Polen, die Russen, die Juden. Tötet möglichst mit dem Messer. Sie quälen ihre Gefangenen grausam. Es gibt solche, denen sie die Därme herausreißen, um den Baum wickeln. Einer von ihnen will dich betrunken töten. Du schnappst dir eine Pistole, schießt auf ihn, rennst fort. ● Nicht genug, dass er sein Leben verliert, denn die Deutschen werden ihn töten, weil er Juden in seinem Haus beherbergt, auch aus dem ewigen Leben wird er verbannt, denn er gibt elf Christusmördern zu essen und zu trinken, den Feinden des Herrn Jesus, schreit der pensionierte Eisenbahner verzweifelt Tag für Tag, wenn er aus der Kirche nach Hause kommt. Würde er nicht großzügig bezahlt und nicht mit ewiger Verdammnis bedroht von eurer Unterstützerin, der gnädigen Dame, einer kämpferischen Katholikin, die die Juden eigentlich überhaupt nicht leiden kann, dann wäret ihr schon lang nicht mehr. ● Immer weiter müsst ihr gehen für Pilze, für Wurzeln. Himbeeren, Brombeeren, Preiselbeeren sammelt ihr, rote, schwarze. Ihr zapft die Birke an, dein großer Bruder kann selbst von den Wildbienen Honig erbeuten. Der Wald lehrt dich auch, wie du die Läuse loswerden kannst. Du ziehst dich nackt aus, legst deine Lumpen auf einen Ameisenhügel. Die Ameisen fressen die Läuse und ihre Nissen. Gegen die Krätze gibt es schon kein natürliches Gegenmittel mehr: in wenigen Augenblicken breitet sie sich auf deinem ganzen Körper aus. ● Ich habe dir das Leben geschenkt, sagt deine Mutter, ich lasse nicht zu, dass es dir die Deutschen nehmen. Jetzt zieht dich nicht das Pferd, du gleitest nicht auf dem Schnee, verwöhnter dreizehnjähriger Fratz, du ratterst mit hundertfünfzig anderen im Waggon. Sie umarmt dich, hebt dich hoch, lässt dich aus der Fensteröffnung hängen, lässt dich langsam hinunter, stößt dich schließlich von sich fort. ● Halte die Hand vor dein Gesicht, damit du nicht erblindest, mahnt dich dein Vater, als ihr nach dreizehn Monaten den Schrank verlassend in den Wald eilt und die ersten Sonnenstrahlen euch gerade entgegenscheinen. Natürlich lugst du durch die Finger. Das Gesicht deines Vaters ist vollkommen zugewachsen, er sieht aus wie ein Affe, und so geht er auch, gebeugt, mit hängenden Armen, wie ein Affe, deine Mutter ebenso, sie können sich noch nicht aufrichten. Ihr geratet sofort in die Hände der Deutschen. ●

Zu Hause, während du deine Schuhe ausbesserst, platzt ein Ukrainer herein. Jüdische Zwangsarbeiter bewacht er in der Stadt, hierher, zum übernächsten Nachbarn kommt er gewöhnlich, befreundet sich gleich mit zwei Mädchen, doch er hat von dir gehört, also schaut er bei dir vorbei: ihr, Ukrainer, solltet in diesen schweren Zeiten zusammenhalten. Du stammst aus einem gemischten Dorf, erklärst du, daher kannst du gut Ukrainisch, aber eigentlich bist du Polin. Du musst auch für ihn singen, sonze nisenko, wetschir blisenko, er aber hilft dir mit seinem Bass, spischu na tebe, moje serdenko. Er ist zufrieden mit dir. ● Du versteckst dich bei einer armen Familie, nach sechs Monaten hast du kein Geld mehr, obwohl der Jude Geld hat, und doch sagen sie mit keinem Wort, deuten es nicht einmal an, dass du gehen sollst. ● Eine lange Reihe von Karren, auf eurem sitzt ihr zu viert. Zwei Mädchen in deinem Alter, du, zwölfjähriger Junge, und der Rabbi. Ihr geht ins Lager. Rabbi, gibt es das Jenseits?, fragt eines der Mädchen. Aber natürlich gibt es das. Gut, dann werden wir im Jenseits leben. Darauf der Rabbi: Mein Kind, das Jenseits ist sehr anders, sicher gibt es das, aber es ist besser, wenn wir hier leben, im Diesseits. ● Sie kriechen überall auf dir. Du isst kaum, die Läuse essen dich umso mehr. Deine Mutter haben sie erschossen, mit drei Fremden bist du neunjährig zusammengesperrt. Dein einziges Vergnügen ist, dass du die Nissen mit dem Nagel deines Daumens zerdrückst. In dieser engen Grube, unter der Scheune. Sechs Monate lang. ● Du wirst krank, Ruhr, dein kleiner Bruder bekommt sie auch. Der nächste “Brunnen” ist eine gesprungene Wasserleitung irgendwo weit entfernt. Die Teekanne zwischen den Zähnen haltend legt dein Vater auf allen vieren Kilometer im Tunnel zurück, damit ihr sauberes Wasser habt. Genauso bewegt sich der Kanalisationsarbeiter fort, der euch mit Lebensmitteln versorgt. Er bringt den kleinen Kranken Eier im Mund. ● Die Nachricht ist, dass die Deutschen den Wald durchkämmen. Euer Vater schickt euch aus dem Versteck fort; ihr, Mädchen, habt noch Chancen, er, der Bärtige, keine. Auch so schnappen euch Polen mit Äxten und Rechen. Juden seid ihr, habt kein Recht zu leben. Sie übergeben euch an die Deutschen, die sehen euch nur an, schau her, was für schöne Mädchen! Komm, sagt deine große Schwester, lass uns gehen, dann erschießen sie uns wenigstens von hinten, nicht von vorn. Ihr geht mit starrem Rücken los, mit schlotternden Knien, erst nach einer ganzen Weile traust du dich, nach hinten zu sehen, die Deutschen in weiter Ferne. ● Frauen, Männer, Alte, Kinder, etwa dreihundert aus der Gegend, ihr habt euch Verstecke im Wald gegraben. Russische Fallschirmspringer landen in eurer Nähe, der Hunger, die Angst haben vorübergehend ein Ende. Ihr genießt bewaffneten Schutz, es wird auch genug Lebensmittel geben, die sowjetischen Partisanen gehen zum Plündern ins Dorf. Sie haben auch ein Radio, abends hört ihr mit. Sie organisieren eine bewaffnete Einheit aus euch Jungen. Als die Deutschen genug von der Unruhe haben und mit vereinten Kräften einen Angriff starten, lassen die Sowjets euch sitzen. Die Treibjagd überleben fünfzehn von euch. ●

Jetzt habe ich dich, Judenmädchen, bist von selbst in die Falle gegangen, jetzt entkommst du mir nicht! Ein junger Bursche, in einer AK-Uniform, zerrt dich an das Flussufer. Lass mir mein Leben! Er schlägt dich mit dem Gewehrlauf nieder, versetzt dir Tritte. Du küsst seine Füße. Bist gerade elf gewesen. Umsonst, sagt er, gleich liegst du tot hier. Und er zeigt, wo. Du brichst in fürchterliches Klagen aus, springst auf und rennst ins nahegelegene Gestrüpp. Er schießt dir mehrmals hinterher, doch er verfehlt dich. ● Regelmäßig besuchen sie Männer. Sie kann sich nicht wehren, denn sonst geben sie sie den Deutschen als partisanenverdächtig preis. Oft weint sie. Du liegst dort sechsjährig, hörst die “Ereignisse” auf der anderen Matratze. Du verstehst nicht, was geschieht, doch es stört dich sehr. Von Zeit zu Zeit gibst du Töne von dir, davon hört das Bedrängen deiner Mutter auf, andere Male tust du so, als schliefest du. ● Deine Eltern verstecken sich im Affenhaus, ihr Kleinen im Keller desselben Gebäudes, wo der Direktor mit seiner Familie wohnt. Tiere gibt es im Zoo keine mehr. Die Deutschen haben sie alle mitgenommen. Bevor ihr weggeht, weil die Haushälterin mit Anzeige droht, will die Frau des Direktors euch die Haare blondieren, aber sie hat wohl die falsche Farbe gekauft, denn ihr werdet so rot wie die Eichhörnchen. ● Am dritten Tag klopfst du bei einem Haus an, sie lassen dich über Nacht herein, am Morgen sagt dein Hausherr: Du bist Jude, ich bekomme für dich fünf Pfund Zucker, ich bringe dich den Deutschen. Du gibst ihm so viel, antwortest du, wie fünf Pfund Zucker wert sind, nur soll er dich gehen lassen. ● Die Frau, die dich versteckt, ist alt, zerbrechlich, sie hasst die Besetzer. Eines Abends sagt sie zu dir: Du weißt, ich bin gläubig, doch wenn Christus sich zwischen mich und Hitler stellte, würde ich das Messer durch den Leib Christi in Hitler hineinstoßen. ● Die Tochter des Bauern arbeitet in einem deutschen Klub im Ort, ihr Geliebter kommt auch vorbei, einer von der SS. Wer ist das, fragt er und sieht dich an, denn er hat dich noch nie gesehen. Meine Cousine, sagt das Mädchen. Wer bist du, fragt er geradewegs dich.Eine Jüdin, erwiderst du, soll er dich lieber erschießen, doch diese Anspannung, gestern Hausdurchsuchung bei deiner vorherigen Unterkunft, heute schießen sie unterwegs auf dich wie auf ein Wild und jetzt diese Kontrolle, das erträgst du nicht mehr. Alle brechen in lautes Gelächter aus, eine Jüdin, du, du Blauäugige, Blonde, was für ein guter Witz, der Deutsche hält sich noch den Bauch, als er durch die Tür hinausgeht. ● Es ist, als nahte das ganze Dorf. Ein heilloser Lärm, Frohsinn wie bei einem Volksfest. Juden, Gottesleugner, Abschaum, hängt sie an den nächsten Baum!, tönt der Chor. Sie schießen in den Heuhaufen, in dem ihr euch versteckt habt. Stechen mit Heugabeln hinein. Du Blutsauger, Dreckfresser, lausiger Jude, komm heraus! Jammergeschrei, aus unmittelbarer Nähe. Nur den Atem anhalten! Nur nicht husten! Als du dich wagst, aus dem zerwühlten Heuhaufen hervorzukommen, wird es schon dunkel. Nackte Körper auf dem Boden. Blutig, verstümmelt. ●

Allein irrst du im Wald umher, auf der Suche nach deiner Mutter, zwei Jahre. Du lebst wie die Wildtiere. So siehst du auch aus. Vor ihnen hast du keine Angst, nicht das Wildschwein, nicht der Fuchs – die Menschen sind deine Feinde. Und doch gibt es nichts, nach dem du dich mehr sehnst, als eine menschliche Stimme zu hören. ● Deine Mutter wiederholt es immerzu, nähere dich nicht der Dachbodentür, sieh nicht einmal hin, ein garstiger Wolf ist dort drinnen, wenn du die Tür öffnest, kommt er frei und verschlingt dich – dabei, und das verstehst selbst du, der Dreijährige, ist es kein Wolf, sondern dein Vater, der sich dort versteckt, nachdem er aus dem Lager geflohen ist, doch das ist ein so großes Geheimnis, dass es niemand wissen darf, nicht einmal du. ● Dein Vater ist der Feldarzt der polnischen Partisanen. Dich benutzen sie, mit Hilfe einer Feder festzustellen, ob der verletzte Feind tot ist oder nicht. Du bist der “Junge mit der Feder”. Wer noch lebt und bei sich ist, versucht dir ins Gewissen zu reden. Zieht ein Familienfoto hervor. Aber du, achtjähriger Partisane, kennst die Lektion schon so genau, je mehr ihr von ihnen tötet, desto mehr bleiben von euch am Leben, dass du mit keinem Erbarmen hast. ● Du isst alles, was du in den Mund nehmen kannst. Würmer, Käfer. Allerlei Pilze, auch giftige, es dreht dir zuweilen den Magen um. Du schlabberst aus einer Pfütze. Stopfst dir Schnee in den Mund. Aber es gibt auch allerlei Nager. Feldmäuse, Hasen, Mäuse, Ratten. Du isst wirklich alles, du würdest es selbst nicht glauben. ● Hier sind diese paar Kleidungsstücke, dein Vater hat sie hier gelassen, der Knecht begleitet dich in den Wald hinaus, um Mitternacht geht ihr los. Am Waldrand greift der Knecht zur Axt, die Kleider behält er; sogar die Decke reißt er von dir, bitte ihn um nichts, wenn du am Leben bleiben willst! ● Juden? Wo sind noch Juden?, erwidert dein Hausherr den Polizisten die Frage, die gerade auf dich zeigen. Er? Hol nur deine Papiere! Er setzt die Patrouille an den Tisch, gibt ihnen zu essen, zu trinken, und du, den dein Hausherr am Wegrand aufgegabelt und auf seinen Karren gesetzt hat, als du geschlafen hast, schleichst aus dem Zimmer, damit deine Verfolger dich vergessen. ● Auf die Worte, dass er wegen dir getötet werden könnte, zuckt der alte Bauer mit den Schultern: Wenn sie mich töten, töten sie mich eben. Wir sind in Gottes Hand.

Aus dem Ungarischen von Eva Zador

 

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