Am Ziel
Sooft tagsüber die Waggontür aufkracht, blendet grelles Licht die Augen des aus der Ewigkeit Ankommenden, ob sommers oder winters; der Geruch von verbranntem Fett oder verfaulendem Fleisch steigt ihm in die Nase, und wenn er, weil er brennender Durst und Sauerstoffmangel ihn noch nicht umgebracht haben, bei der Prüfung der Frage, ob wohl das seit fünf, sechs Stunden, ein, zwei Tagen, bald seit einer Woche andauernde Dunkel, das unerträgliche Zusammengepferchtsein, das Ausscheiden in der Enge und alle seine Folgen und das Gefühl eines in die Latrine Geworfenen dem Willen Gottes entspreche und deshalb zum Zweck der Natur gehöre, noch an keinem Ruhepunkt angelangt ist, so bleibt ihm, verwirrt von den gebrüllten deutschen Kommandos und mehr noch von den Gewehrkolbenschlägen und Peitschenhieben der auf die Waggons springenden Ukrainer, herausgestoßen aus dem Wagen und auf den mit Schlacke bestreuten Bahnsteig stürzend, kaum mehr Zeit, sich darüber klarzuwerden.
Doch mag auch das Siegel ein verborgenes Dasein führen, das Wachs, das seine Prägung enthält, gibt von ihm offene Kunde, könnte jeder der Aussteigenden denken, wo doch die Not groß ist, doch siehe da, erstens ist Hilfe nahe, denn während die Mehrheit das lange Holzgebäude (vermutlich die Station) entlanggetrieben wird und infolge der ständig angewendeten Zwangsmaßnahmen auf die Fläche zwischen dem Gleis und dem fichtenzweigbedeckten Zaun strömt, sammeln weiter hinten zuvorkommende Uniformierte und ihre Helfer in Zivilkleidung die Schwachen und Kranken zu einer separaten Gruppe und bieten ihnen an, sie zum Lazarett zu begleiten, wo sie ärztliche Versorgung erhalten würden; zweitens läßt auch die Information nicht auf sich warten, ein deutscher SS-Soldat mit engelsgleichem Gesicht beruhigt die noch unversehrt Herandrängenden, das sei hier ein Durchgangslager, morgen würden sie Richtung Osten weiterfahren, in die Ukraine, wo auf die Männer Arbeit warte, auf die Frauen der Haushalt, dort werde Sauberkeit herrschen, Ordnung, deswegen komme zuvor jedermann unter die Brause, die Kinder würden entlaust, die Kleider desinfiziert, mit Schmutz und Elend sei es vorbei, gewisse Fachkräfte, das könne er jetzt schon sagen, würden dringend gebraucht, worauf mehrere Leute zu applaudieren begannen, letztendlich, dachten sie, darf niemand kraft eines ihm übertragenen Amtes etwas tun, was zu diesem Amte im Gegensatz steht; sonst würde ja ein und dasselbe zu sich selbst im Gegensatz stehen, was unmöglich ist, derjenige, der vor ihnen steht, ist also tatsächlich der Überbringer der guten Nachricht, ein Wunder, daß seine Flügelschläge nicht rauschen.
Wie sehr die Applaudierenden die Lage falsch beurteilen, fällt angesichts ihrer momentanen Freude wenig ins Gewicht, nicht einmal der Schock des nächsten Augenblicks kann ihrer Begeisterung etwas anhaben, da öffnen sich nämlich die Flügel des nadelbepelzten Tores, und ein wenig nachdem die Schwarzuniformierten begonnen haben, die bereits halb und halb erleichterte Menge mit den Zwangsmitteln in ihren Händen erneut heftig zu bearbeiten und durch das Tor zu treiben, erdröhnt ein weiterer Befehl, die Männer hierhin, Frauen und Kinder dorthin, und bevor noch eine böse Vorahnung die Mägen der von weither Gekommenen zusammenkrampfen würde oder die Stromstöße des Entsetzens in ihre Herzen fahren könnten, verteilt der Antreibertrupp seine Züchtigungen bereits als trennender Keil, indem er die Mitte des offenen (von zwei langen Baracken gesäumten) sandigen Platzes eingenommen hat und die bis dahin vereinten Familien, beziehungsweise das, was noch von ihnen geblieben ist, auseinanderreißt, wobei er nicht einmal genügend Zeit und Raum läßt, ein Wort zu wechseln und voneinander Abschied zu nehmen. Wer sich in die falsche Richtung bewegt, wird wie von Keulen an Hals oder Kopf getroffen; Frauen werden in die Entkleidungsbaracke auf der linken Seite getrieben, Männer müssen sich niederhocken, niederknien, auf die Erde setzen, sollen sie nur, falls sie etwa das Hasenpanier ergreifen wollen, in den Lauf des Maschinengewehrs blicken, das auf dem Dach der rechten Baracke aufgebaut ist.
Man kann nicht in jeder Materie die gleiche Gewißheit fordern, sondern nur die, welche der Natur der zugrundeliegenden Sache entspricht, ja, darüber besteht kein Zweifel, allein die Neuankömmlinge, die im Sand Sitzenden, ob ihr Blick nun auf das Maschinengewehr, auf die Pistolenläufe oder die bedrohlich sausenden Peitschen fällt, werden gewahr, daß alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet ist, auf sie, die dort sitzen, wie brave Kinder in der Schule, sie selbst sind diese Materie, die auf die Erkenntnis wartende, die Gewißheit in sich tragende, und ihre Betroffenheit verstärkt sich nur noch, denn siehe, vor ihnen wie hinter ihnen, auf Telefonmasten und Holzpfählen, künden polnische und deutsche Tafeln, wovon sonst, wenn nicht von ihnen, von ihrer Zukunft, und sie prophezeien dasselbe, wie soeben der engelsgesichtige SS-Soldat, mehr noch, ein weiteres Auspizium, Berufsbezeichnungen auf kleineren Tafeln an Pfählen, offenbar würde man sich, wenn man aufstehen durfte, nach Professionen um sie gruppieren können, alles dreht sich also um sie, nur sie selbst wissen nicht, was mit ihnen dort drinnen wird, was für eine Natur sie vom Allmächtigen, von Vater, Mutter bekommen haben, sodaß sie um nichts in der Welt fertigbringen, darauf zu vertrauen, was trotz der bereits bekannten brutalen Behandlung als Faktum erscheint, nämlich, daß man sie zu einer vernünftigen Tätigkeit verwenden will, das ist sehr wohl beabsichtigt, letztendlich, und wie sollte der aus der Ewigkeit Angekommene nicht wissen, daß jedes Ding um irgend eines Zweckes willen da ist; sonst wäre es nutzlos. Wie das Ding funktioniert, ist natürlich nicht herauszubekommen.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß alle, deren Leben in eines anderen Hand liegt, mehr an das denken, was der, in dessen Gewalt und Macht sie sich befinden, kann, als an das, was sie tun dürften und sollten. Doch wer von allen Seiten Waffen auf sich gerichtet sieht, auf wen zugleich mit dem Kommando, sich auf der Stelle auszuziehen, erneut die Peitsche niedersaust, der ist bereits außerstande, irgendwelche Überlegungen anzustellen, vor allem dann, wenn er an das prophezeite Morgen glauben will, mehr noch, er ist nicht fähig, zu denken, zumindest kaum daran, was sein Kerkermeister mit ihm anstellen könnte; was mit seinen Wertsachen, daran vielleicht schon, falls er noch welche besitzt und nicht soeben die Peitsche auf seinem Kopf tanzt, denn die Wertsachen muß er nämlich abliefern, an einer Bude am Rand des Platzes, beziehungsweise bereits entkleidet und splitternackt an der „Kasse“, die von der Auskleidungsbaracke für die Frauen abgeteilt ist, wo man auch die Ausweise abgibt, theoretisch gegen eine Quittung (praktisch ohne eine solche), Schlange stehend, und weil nun Schlangestehen eine Beschäftigung ist, bei der einem sogar etwas in den Sinn kommen könnte, der ins Ohr gehende Refrain eines Schlagers, eine Warschauer Adresse, wohin man schreiben müßte, um ein Lebenszeichen zu geben, oder (eine jahrhundertealte eingefleischte Reaktion in großer Bedrängnis) dies und jenes in den Körperöffnungen zu verbergen, doch ist es zum einen nicht sicher, daß die Idee zur Ausführung gelangt, zum anderen, wenn doch, ist es nicht wahrscheinlich, daß der Versuch unter den Argusaugen der schwarz und grün Uniformierten erfolgreich wäre, auch werden sie bereits zu den Friseuren weitergescheucht, die am Ende der Baracke ihre Scheren schnippen lassen, die scheren ihnen mit ein paar flinken Schnitten das Haar kurz, und schon werden sie auf den mit weißen Sand bestreuten Waldweg getrieben, der zum Bad führt.
Das Bad, so könnte man sagen, steht zu dem Waldweg im Verhältnis von Folge und Voraussetzung, wie auch der Waldweg nicht denkbar ist ohne die Frauenauskleidebaracke und den Auskleideplatz für die Männer (auch Sammlungsplatz, Transportplatz genannt), und so weiter, die fast geschlossene logische Kette ist beliebig nach hinter fortsetzbar, bis dorthin, wo das christliche Europa mit einem Mal den gemeinsamen Zeigefinger gegen das Judentum reckt wie die Folge gegen die Voraussetzung. Es ist eine große Frage, ob die Christenheit sich aus dem Judentum ergibt, wie das Trinken aus dem Durst, die Reinigung aus dem Schmutz an unserem Körper, mehr noch, (so wird es von alters her gelehrt), ob das eine das andere zum Ziel hat, ob das Bedürfnis und dessen Befriedigung alles ist, woraus die Geschichte besteht, die, wie eine Schachtel den daraus herausschnellenden Teufel, ihr Ziel in sich trüge? Eines ist sicher, die Geschichte vollbringt nur Dinge, die so beschaffen sind, wie das, was geschehen soll: so entsteht die Zukunft. Der Waldweg, der zwischen mit Zweigen getarnten Stacheldrahtzäunen verläuft, beschreibt zwei scharfe Kurven und steigt durchwegs an, somit steht die Zukunft auf dem Boden der Unabsehbarkeit. Unzählige Waggonladungen von Frauen, Männern und Kindern hasten auf dem Waldweg voran, der wie ein Korridor aus Hecken aussieht, während die Schläge Dutzender Bewaffneter auf sie niederprasseln. Auf den Gesichtern der Treiber malt sich eine endgültige Freude, als befänden sie sich bereits im Paradies. Falls die Feststellung zutrifft, daß in der Handlung das Sein des Handelnden sich gewissermaßen erfüllt, woraus mit Notwendigkeit eine Beglückung folgt, weil Beglückung immer an das Ersehnte geknüpft ist, so kann auch darüber kein Zweifel herrschen, daß die zahllosen rennenden Nackten höchst gelegen kommen, wenn sie nicht gar das Nonplusultra der Träume dieser Dutzenden von Bewaffneten sind, die als in die Zange nehmende oder von hinten hetzende Bluthunde Nachzügler mit den beißenden Peitschenriemen auf Trab bringen, sofern alptraumhaftes Frauenkreischen, Säuglingsbrüllen und das Jammern Betagter im Leben von Männern mittleren Alters wirklich als wünschenswertes Ereignis gelten können.
Anfangs versuchte ein zusammengewürfeltes Trio (Geige, Rohrflöte, Mandoline), rekrutiert aus Einwohnern von Stoczek, die das Lager errichtet haben, unter den Lärchen hinter dem Zaun dafür zu sorgen, daß sich vom Heckenkorridor und später aus dem Bad keine Laute verbreiten, einen Steinwurf vom Bad entfernt, fruchtlos, denn ihr in die Stoczeker Dorfscheune passendes Zirpen ließ die hochspritzenden dunklen Wehklagen, die in der Luft verschmierenden Schreie noch greller hervortreten, zum Glück ist im November ein Stern des Warschauer Jazzlebens eingetroffen, zwar war er bereits nackt, als man ihn entdeckte (auch da hielt er noch seine Geige umklammert), doch gelang es, ihn irgendwie zu einzukleiden und eine zehnköpfige, dem Vernehmen nach feste Band organisieren zu lassen; besonders dank der Schlagzeuger, mit Hilfe der an Ort und Stelle hergestellten Trommel und der von weither angelieferten Becken, ist diese nun in der Lage, eine Platzmusik zu bieten, die schon an sich disziplinierend auf das Durcheinander der Laute wirkt, sie dämpft das Wehgeschrei, unterdrückt es zeitweise mit großem Tschingderassa, zur nicht geringen Befriedigung ihrer Brotgeber: sieh an, sieh an, Musik ist ein zivilisierender Faktor.
Doch der Waldweg würde trotzdem die Spuren der darauf Rennenden bewahren, denn wie die Zugsfahrt, verursacht auch dieser Abschnitt ihres Weges tiefgreifende Veränderungen in den aus der Ewigkeit Ankommenden; so, wie einige der in die Waggons Gestoßenen von einer großen Ruhe überkommen wurden und sie begonnen haben, das, was mit ihnen geschieht, von außen zu betrachten, als würden sie einen Film ansehen, so verstehen auch diejenigen der in den Heckenkorridor Getriebenen, die bis dahin Geld als Wert betrachtet und versucht haben, möglichst viel davon bei sich zu behalten, aus den Umständen dieses zum Bad Laufens, daß sie für die Banknoten, die sie dabei haben, überhaupt nichts mehr würden kaufen können, weder Essen noch Freiheit und auch keinen gefälschten Ausweis, deshalb sind ihre Fußspuren wie von fallendem Laub alsbald von zerrissenen Złotys, Mark und Dollars bedeckt, auch die kann man nicht dort liegenlassen, denn es folgt ja bald der nächste Schub, noch weniger kann dasjenige dort bleiben, was gegen Ende des Wegs zurückgelassen wird, vor allem von den Frauen, in langen Streifen, dann, wenn sie gegenüber dem Badehaus beim Anblick der bunten Geranien am Treppenrand, plötzlich zurückprallen und diejenigen von ihnen, die schwächere Nerven haben, auch das fallen oder auf die Erde fließen lassen, was sie bis dahin in ihren Leibern zurückgehalten haben, das muß ja jedesmal weggeputzt werden, zusammen mit den weiteren Spuren im Bad, doch dafür ist die Putzbrigade ja da, eine Truppe mit Kübeln, Birkenreisigbesen, Harken und Wurzelbürsten, ihr Ressort ist es, Weg und Duschraum in Ordnung zu bringen, Fäkalien zu entfernen, frischen Sand zu streuen, Fließen schrubben, mit eingeübten, fast automatischen Bewegungen.
Einen lebenden Menschen als Automaten sehen, lautet das Diktum, ist analog dem, irgend eine Figur als Grenzfall, oder Variation einer andern zu sehen, z. B. ein Fensterkreuz als Swastika - wohl wahr, doch wenn er ein Automat ist, wozu dann noch mit der Peitsche hinter ihm her sein?, zum anderen bietet dieser Arbeitsplatz, das neue Badehaus, dem Auge kein einziges Fensterkreuz und überhaupt kein Fenster, an Swastiken herrscht allerdings in dieser Gegend kein Mangel, sie prunken an sämtlichen deutschen Mützen, zwischen Adlerkrallen, doch die soll niemand mit dem Davidstern verwechseln, der kommt in diesem Teil des Lagers nur in einem einzigen Exemplar vor, einem einzigen, das jedoch von beträchtlicher Größe ist; aus einer Kupferplatte gefertigt, gleißt es auf der Fassade des Badehauses, quasi als Aufmerksamkeit für die Weiterreisenden, eine ähnlich nette Geste von Seiten des Betreibers ist der purpurne Vorhang, der den Eingang verdeckt, gerettet aus einer dem Verfall preisgegebenen Synagoge, mit der aufgestickten hebräischen Aufschrift: Das ist das Tor des HERRN; die Gerechten werden dahin eingehen; also verschlingt eine Anlage konfessionellen Gepräges die aus der Ewigkeit Ankommenden, es ist auch Eile geboten, denn das Personal schreit schon von weitem, das Wasser werde kalt, die Bademeister verleihen ihren Worten mit geeigneten Werkzeugen Nachdruck (Schwert, Bleirohr, Peitsche), und die Hineinströmenden können im Laufen noch die Wahrnehmung machen, daß sie ihre Handtücher (sofern jemand eines dabeihat) an die Haken im Korridor hängen könnten, würden sie von der Belegschaft, die einen Kordon bildet, nicht schnurstracks in den Duschraum gepreßt, irgendwie so, wie man in einer Dampfwäscherei Bettwäsche in die Trommel der Industriewaschmaschine stopft.
Übertragen von Heinrich Eisterer